Zur Geburt von Ernst Leitz II war der Name Leitz Ende des vorletzten Jahrhunderts zu einem Begriff geworden und bildete einen Anziehungspunkt für talentierte Mechaniker und Optiker aus ganz Deutschland. Heute würde man von Maschinenbauingenieuren sprechen, damals nannten sie sich selbst schlicht „Mechaniker“. Sie waren hochbezahlte Techniker, Individualisten, die in den verschiedensten Industriebereichen gelernt hatten und denen es Spaß machte, mit den neuen Techniken erfolgreich zu experimentieren.
Inhaltsverzeichnis:
Sein Leben in Stichpunkten:
* 1.3.1871 Wetzlar, † 15.6.1956 Gießen, evangelisch
Dr. med. h.c.; Dr. phil. h.c. – Industrieller
- Lehre zum Feinmechaniker im väterlichen Betrieb
- Ausbildung zum Kaufmann
- 1906 Teilhaber des optischen Unternehmen Leitz
- 1920 nach dem Tod seines Vaters Alleingesellschafter des Unternehmens
- Seniorchef der Leitzwerke, Wetzlar
- Ehrensenator der Universität Gießen; Ehrensenator der TH Darmstadt
- 1952 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland
Vater und Sohn Ernst Leitz
1885 zählte die Belegschaft, der Leitz Werke, noch 58 Mitarbeiter, nach der Jahrhundertwende waren es schon 400. Vater Leitz stellte die meisten „Mechaniker“ persönlich ein, allerdings nicht ohne vorher die Meinung seiner tüchtigen und vorsorglichen Frau einzuholen. Seinem Sohn Ernst Leitz II gelang es, ein kollegiales Verhältnis zwischen sich, dem „Chef“ und seinen Mitarbeitern aufzubauen. Bis zum jüngsten Lehrling kannte er alle mit Vornamen. Diese Verbundenheit trug sehr zu beidseitigem Vertrauen bei, so daß bei Auseinandersetzungen im Schulhof Kinder ihre Väter nicht ohne Grund mit dem Ausspruch zu verteidigen pflegten:
„Du kannst mich gar nicht reize,
mein Vater ist bei Leitze“.
Gute Leute zu finden war nicht leicht. Viele stammten – wie Leitz selbst – aus der Schweizer oder Württemberger Uhrenindustrie. Sie konnten ihre Arbeitgeber nahezu aussuchen, denn die industrielle Revolution war seit Beginn des Jahrhunderts in vollem Gange und man benötigte überall talentierte Ingenieure, deren Weitsicht und Planung zur Verbesserung der Produktion und zu wirtschaftlichem Aufstieg verhalten.
Optiker und Mechaniker sind gefragt und verdienen gut
Die optische Industrie Deutschlands verschaffte sich bald weltweite Geltung. Ein Optiker oder Mechaniker verdiente damals durchschnittlich etwa 4,50 Goldmark in der Stunde, ein Maurer rund 2,80 und ein Bäckergehilfe kam auf etwa 1,20 Goldmark. Nicht nur Mechaniker kamen nach Wetzlar, sondern auch Optiker und Wissenschaftler. Karl Metz (1861 – 1941) spielte bei Leitz eine führende Rolle, vor allem bei der Gestaltung und Entwicklung der Objektive für großformatige (18 x 24 cm) Plattenkameras. Er war ein guter Lehrer und in seinen Seminaren machte er – um nur ein Beispiel zu nennen – die Theorien der Optik vielen Leitz-Mitarbeitern verständlich, einschließlich Ludwig Leitz aus der dritten Generation.
Es war jedoch Professor Dr. Max Berek, der den Leitz-Polarisationsmikroskopen weltweit den guten Ruf verschaffte, der sie seitdem auszeichnet. Er kam 1912 zu Leitz und genoß während seiner 37jährigen Tätigkeit bei der Firma als Leiter der sich unter seiner Führung zu einer der Besten der Branche entwickelnden Forschungsabteilung und als Mineraloge eine große Anerkennung. Informationen zu Professor Berek ist eine eigene Seite gewidmet.
Zwei weitere Männer, die damals zu Leitz kamen, verdienen ebenfalls Erwähnung: 1908 stieß August Bauer, der spätere Betriebsleiter, zu Leitz, und 1912 folgte Oskar Barnack nach. Barnack starb leider viel zu früh. Aber sein Entschluss nach Wetzlar überzusiedeln stellte den entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Entwicklung der heute weltbekannten Leica-Kamera dar.
Emil G. Keller erzählt in seinem Buch
Im Jahre 1923 – ich war gerade neun Jahre alt – besuchte ich meinen Vater zum ersten Mal an seinem Arbeitsplatz; er war Werkmeister der Mikrotomabteilung. Sein Zimmer befand sich im „roten Haus“, das wegen der unverputzten Backsteinmauem so genannt wurde, im zweiten oder dritten Stockwerk – so genau erinnere ich mich nicht mehr daran. Der Raum war nur etwa zweieinhalb auf dreieinhalb Meter groß, und durch das Fenster erblickte man den Kalsmunt, das Wahrzeichen Wetzlars.
In der Werkstatt meines Vaters sah es aus wie bei einem Kesselflicker: Halbfertige Teile, Gussstücke, Zahnräder, Holzmodelle, Skizzen, alles lag in einem scheinbar geordneten Durcheinander herum. Der einfache Tisch war mit Mappen und Büroutensilien belegt. Dahinter mein Vater: ein mittelgrosser Mann von 61 Jahren mit grau-meliertem, dünnem Haar. In den 36 Jahren, die er bei Leitz arbeitete, hatte er 27 verschiedene Patente beigesteuert. Er schaute mich schmunzelnd an und konnte sich eines fröhlichen Lächelns nicht enthalten. Wie lange ich da gestanden hatte – es muß um die Mittagszeit gewesen sein – und alles mit großen Augen ansah, weiß ich heute nicht mehr. Irgendwie kam ich dann wieder nach Hause. Wahrscheinlich hatte mich meine Mutter abgeholt.
Auf jeden Fall war jener aufregende Tag von nachhaltiger Wirkung auf meinen jungen Geist gewesen und das Erlebnis ist mir als verschwommener Eindruck bis heute im Gedächtnis haften geblieben. Sechs Monate nach jenem einprägsamen Tag starb mein Vater an einem Herzinfarkt. Erst vor kurzem erfuhr ich von Dr. Ludwig Leitz, dass er und sein älterer Bruder Ernst III, des öfteren zu meinem Vater kamen, um Spielzeug reparieren zu lassen. Vater schimpfte dann immer „was die Spielzeugmacher für einen Bruch machen, wie kann man so etwas reparieren?“ Trotzdem wurde das Ding in Ordnung gebracht, und zwar so, daß es danach nicht mehr kaputtzumachen war.
Die Herren Leitz hatten Erfahrungen in der Uhrenindustrie gesammelt
Schon der Vater von Ernst Leitz II hatte auf Grund der Erfahrungen, die er in der Uhrenindustrie sammeln konnte, die Fertigung von Mikroskopen systematisch mit Hilfe der sogenannten „Arbeitsteilung“ rationalisiert. Es war noch gar nicht lange her, daß jedes Instrument von den einzelnen Mitarbeitern von Anfang bis Ende selbst hergestellt wurde, worauf diese mit Recht sehr stolz waren. Aber auf Grund steigender Nachfrage konnte diese Einzelstückfertigung nicht mehr praktiziert werden. „Arbeitsteilung erhöht die Produktionskapazität, verbessert die Gesamtqualität und erlaubt eine günstigere Preiskalkulation“ war der neue Leitsatz von Ernst Leitz II.
Somit wurden Spezialarbeiter angeworben: Optiker, Mechaniker, Schleifer, Dreher, Justierer und Polierer, Zeichner, Werkzeugmacher und Vorrichtungskonstrukteure. Das waren neue Berufe, die zu neuen Wegen führten. Emst Leitz besuchte vor dem ersten Weltkrieg die Neue Welt, und es ist anzunehmen, daß er in den USA ein paar Kniffe dazu lernte. Seine USA- Reise ging aber noch aus einem anderen Grund in die Geschichte des Unternehmens und der Leica ein: Er nahm einen Prototyp von Bamacks Kleinkamera mit, um diese handliche Kamera in der Praxis auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Hier scheint es nun angebracht zu sein, auf ein paar Details aus der Leitz-Familienchronik einzugehen.
Ernst Leitz II heiratet eine Frau Gürtler
Ernst Leitz II heiratete eine Frau namens Gürtler aus Hannover. Drei Kinder gingen aus dieser Ehe hervor: Elsie Leitz (später Kühn-Leitz) wurde im Jahre 1903 geboren, Ernst Leitz III folgte 1906 und Ludwig Leitz kam 1907 zur Welt. Das „Rosenschlösschen“ oberhalb des Kalsmunt-Tors, wo später die Patentabteilung untergebraucht war, war damals der Wohnsitz der Familie. Mit dem Familienzuwachs wurde das „Rosenschlösschen“ zu klein und Ernst Leitz II machte sich Gedanken über ein größeres Haus, nicht nur für die wachsende Familie, sondern ebenso als ein Gästehaus, in dem er Besucher – Wissenschaftler und Geschäftsfreunde aus aller Welt – bewirten und auch unterbringen konnte.
Er ließ von dem Architekten Bruno Paul während des Esten Weltkrieges das „Haus Friedwart“ bauen. Ein Name, der mit viel Zuversicht und Hoffnung zur damaligen Zeit paßte. 1919 war der prachtvolle Jugendstilbau fertiggestellt. Inzwischen war die erste Frau von Ernst Leitz II im Jahre 1910 gestorben, und einige Zeit später heiratete er zum zweiten Male; wiederum eine junge Frau aus Hannover, namens Hedwig Wachsmut. Auch diese Ehe blieb nicht kinderlos, und am 14. November 1914 kam ihr Sohn Günther zur Welt.
Die Mikroskop Auswahl wird erweitert
Neben der Herstellung von biologischen Mikroskopen hatte Leitz seine Angebotspalette um mikrofotografische Apparate, Epidiaskope, Metallmikroskope, Polarisationsmikroskope und Ferngläser erweitert. Schon vor dem ersten Weltkrieg blühte das Auslandsgeschäft dank der vielen Niederlassungen und Vertreter in aller Welt. Schulen, Universitäten und Forschungsanstalten in den USA entschieden sich immer häufiger für Leitz-Qualität. Studentenmikroskope waren für jeden Studenten obligatorisch – nicht nur beim Medizinstudium. Leitzmikroskope waren nicht nur von allen Universitäten anerkannt, sondern ließen sich trotz des Konkurrenzkampfes mit einheimischen Marken wie Bausch & Lomb oder Spencer Lens Co. auch auf dem freien Markt immer besser verkaufen.
Die Unruhen und Krawalle nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, sowie die Auferlegung unmöglicher Reparationen, führten in Deutschland zu einem wirtschaftlichen und politischen Kollaps. Der Mittelstand der Bevölkerung wurde durch die Inflation von 1923/24 über Nacht ruiniert, was schwerwiegende Folgen für die Nationalökonomie mit sich brachte. Dies führte zu weiteren Unruhen, die die Wirtschaft schließlich völlig lähmten. Das Geld verlor immer mehr an Wert. Die übrige Welt glaubte nicht daran, daß die Deutschen sich wieder aufraffen und die Schäden des Ersten Weltkrieges wiedergutmachen könnten. Im Notizbuch meines Vaters dokumentieren ergreifende Eintragungen die Zeitspanne vom 1. April 1923 bis zu seinem Tod. Unter anderem sind darin folgende Aufwendungen für den Haushalt vermerkt – für heutige Maßstäbe unfaßbare Zahlen, die für sich Sprechern
- 1.4.1923 – Haushaltsgeld – 150.000 Mark
- 5.4.1923 – 2 Pfund Butter -17.000 Mark
- 10.7.1923 – Haushaltsgeld -600.000 Mark
- 10.7.1923 – 1 Liter Milch -5.000 Mark
- 9.8.1923 – Haushaltsgeld -1.600.000 Mark
- 9.8.1923 – 1 Pfund Butter -33.000.00 Mark
- 6.9.1923 – Haushaltsgeld -10.000000 Mark
- 7.9.1923 – Haushaltsgeld -20.000000 Mark
Kein Wunder, daß man zu jener Zeit auch in Wetzlar nicht gerade von Blütezeiten sprechen konnte. Es war sogar nötig, die Schutzpolizei aus Butzbach nach Wetzlar zu beordern, die ebenfalls nicht in der Lage war, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Marodierende Banden störten im Stadtinnern die öffentliche Ordnung, schlugen die Schaufenster der Kaufläden ein und stahlen alles, was nicht niet- und nagelfest war. Erst als die Polizei aus Düsseldorf nach Wetzlar beordert wurde, kehrte langsam wieder Frieden ein.